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Von Aimee Ardell, lizensiert unter CC BY 2.0

Von Aimee Ardell, lizensiert unter CC BY 2.0, cropped

Es gibt in Deutschland einige große Studien zur Lebenssituation von Jugendlichen. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie explizit und implizit die Lebensrealität von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen nicht berücksichtigen. Dies zeigt sich im Forschungsdesign, das nur die binären Kategorien “Mädchen” und “Jungen” berücksichtigt. Es zeigt sich auch durch die Art der Fragen und durch die aus den Antworten abgeleiteten Schlüsse.

In den großen repräsentativen Studien zu den Lebenswelten von Jugendlichen in Deutschland zeigt sich im Forschungsdesign, durch die Art der Fragen und der Auswertung die implizite Annahme binärer Geschlechtsidentitäten und heteronormativer sexueller Identitäten (vgl. Focks 2011). Daher können weder die Shell-Studie (Albert et al. 2010) noch der aktuelle Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013) Aussagen über die spezifische Lebenssituation von inter*, trans* und genderqueeren Jugendlichen in Deutschland treffen.

Inzwischen liegen zwar einige Studien vor, die sich speziell mit der Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und peripher mit trans* Jugendlichen befassen. Diese untersuchen jedoch meist nur begrenzte Regionen, beziehen die Perspektive der Jugendlichen nicht mit ein, beschäftigen sich mit trans* nur am Rande und/oder sind teilweise schon recht alt.

So beschäftigt sich eine Untersuchung der Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen in München (2011) mit den Einschätzungen von Fachkräften zur Situation homosexueller und transgender Jugendlicher, jedoch ohne die Jugendlichen selbst zu fragen. Die Studien „Schwule Jugendliche“ (Niedersächsisches Ministerium Frauen, Arbeit, Soziales 2001), „Sie liebt sie, er liebt ihn“ (Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Berlin 1999), „Wir wollen´s wissen“ (Jugendnetzwerk Lambda NRW 2005) und „Diskriminierung 2001“ (Jugendnetzwerk Lambda Berlin-Brandenburg e.V. 2001) zeigen wichtige Faktoren für das Erleben und für wahrgenommene Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen auf. Diese Studien behandeln trans* Jugendliche jedoch nur in einem Fall explizit und zu inter* Jugendlichen finden sich keine Daten.

Wenn die Verfasstheit von Jugendlichen zur Sprache kommt, die mit ihrer Geschlechtsidentität oder ihrem Körper nicht in das heteronormative Schema der zwei Geschlechter “Mann” und “Frau” passen, dann in Form pathologisierenden Zuschreibungsprozessen.

Eine Ausnahme bildet dabei die Studie von LesMigraS (2013). Entlang einer intersektionalen Perspektive widmet sich die Untersuchung der Betrachtung von Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen lesbischer und bisexueller Frauen und trans* Menschen. Da das Durchschnittsalter der Befragten in dieser Studie bei 33 Lebensjahren liegt, erfasst diese Untersuchung nicht explizit die Lebenswelten von trans* und inter* Jugendlichen.

Zu den Lebenswelten von erwachsenen Trans* Personen liegen für Deutschland derzeit zwei Studien vor. Zum einen eine Expertise zur Benachteiligung von trans* Personen im Arbeitsleben (Franzen/Sauer 2010), in der jedoch nur am Rande und aus der Perspektive von Erwachsenen auf das Jugendalter eingegangen wird. Auch in der Studie zur Lebenssituation von transgeschlechtlichen Menschen in Nordrhein-Westfalen wird die Situation von Jugendlichen nur implizit deutlich (Fuchs/Ghattas/Reinert/Widmann 2012).

Auf internationaler Ebene ist besonders auf die TransPULSE-Studie in Kanada hinzuweisen. Es handelt sich hierbei um eine groß angelegte quantitative und qualitative Studie für ganz Ontario (Kanada). Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse zu den Lebenswelten von trans* Menschen. Herausragend ist die Studie vor allem auch aufgrund des partizipativen Forschungsansatz (“community based”). Die Studie wurde unter Beteiligung der trans* Community in Ontario durchgeführt. Wenngleich die Studie auf die Lebenssituation von erwachsenen trans*Menschen ausgerichtet ist, gibt es einige wichtige Studienergebnisse zu Kindern und Jugendlichen, wie z.B. die Ausführungen zum „Parental Support”. Da die Studie sehr breit und auch quantitativ angelegt ist, hat sie großen Einfluss auf die Gesundheits- und Menschenrechtspolitik in Ontario/Kanada.

Ebenso wie die Trans-PULSE-Studie in Kanada liegt der Fokus der „Transgender EuroStudy“ (Whittle /Turner/Combs/Rhodes 2008) auf dem Gesundheitsbereich und die Situation von Jugendlichen wird auch in dieser Studie nicht explizit herausarbeitet. Die Organisation Transgender Europe untersucht im Rahmen des Projekts „Transrespect versus Transphobia worldwide“ international die Menschenrechtssituation von trans* Personen, sowie die rechtliche Situation und Gesundheitsversorgung für Trans* (vgl. TvT research project 2012). Jedoch werden hier auch keine jugendspezifischen Daten erhoben.

Auf europäischer und auf internationaler Ebene finden sich zur Lebenssituation von trans* Jugendlichen einige kleinere Studien. Hinzuweisen ist hier auf eine Studie aus Frankreich, bei der die Antworten von neunzig trans* Jugendlichen aus einer Online-Befragung analysiert wurden und auf Suizidalität, medizinische Behandlungen, Reaktionen des Umfelds, Umgang mit HIV-Risiken und Zukunftsperspektiven eingegangen wird (HES/MAG-LGBT Youth 2012).

Eine britische Studie widmet sich den subjektiven Deutungsmustern von „Young People with Atypical Gender Identity Organization“ im schulischen Kontext mit Fokus auf die Reaktionen von Gleichaltrigen (Wilson/Griffin/Wren 2005, p. 307). In einer Befragung von trans* Jugendlichen in den USA geht es um Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Lebensbereichen (vgl. Grossman/D’Augelli 2009).

Insgesamt kritisiert jedoch auch das US-amerikanische Institute of Medicine die unzureichende Datenlage zu Risiko- und Schutzfaktoren für trans* Jugendliche: „The limited amount of research on transgender people has focused less on protective factors than on the factors associated with positive outcomes of sex reassignment“ (Institute of Medicine 2011).

Vor allem zu den Lebenswelten von Inter* Personen liegen derzeit nur wenige Studien vor und diese wurden in der Regel aus medizinischer Perspektive entwickelt und durchgeführt. Dies wird von inter* Personen und den entsprechenden Interessenverbänden regelmäßig kritisiert (vgl. Kromminga/Blaine/Klöppel 2009, Klöppel 2012).

In der Stellungnahme Intersexualität des Deutschen Ethikrats werden die Ergebnisse einiger der Befragungen zusammengefasst. In diesen Untersuchungen geht es vor allem um die Erfahrungen mit medizinischen Behandlungen, die Lebensqualität und den Zusammenhang zwischen medizinischer Behandlung und Lebenszufriedenheit. Die an der Untersuchung Teilnehmenden werden des weiteren zu Diskriminierungen und zu ihren Forderungen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation befragt. Die Zuständigkeit der Medizin wird in diesen Untersuchungen jedoch nicht infrage gestellt (vgl. Klöppel 2012).

Eine Ausnahme bildet die weltweit erste empirische (Vor-)Studie zur Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen im Globalen Süden und Osten sowie Europa, die im Herbst 2013 erschienen ist. Die Erkenntnisse der Studie zeigen eine Bandbreite von Menschenrechtsverletzungen im Bereich Medizin, Recht und Alltag auf (Ghattas 2013).

Zusammenfassung

Auf die besondere Situation von Jugendlichen wird in keiner der bislang vorliegenden Studien eingegangen. Bei der Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes lässt sich zusammenfassend feststellen, dass ein akuter Forschungsbedarf zu den Lebenswelten von inter*, trans* und genderqueeren Jugendlichen vorliegt. Das Zusammenwirken von Jugendalter und trans*, inter* und genderqueeren Identitäten wurde bisher in Deutschland unzureichend untersucht.

Die Lebenswelten von trans*, inter* und genderqueeren Jugendlichen wurden in Studien nur am Rande und implizit betrachtet, wenn es um die Lebenswelten von lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen ging. Mögliche Unterschiede und Besonderheiten der jeweiligen Gruppen konnten somit nicht erfasst werden und wurden meist nicht thematisiert. Studien zur Lebenssituation von trans* und inter* Personen beziehen sich vor allem auf das Erwachsenenalter und geben kaum Aufschluss über die Lebenswelten und die subjektiven Deutungsmuster von trans*, inter* und genderqueeren Personen in der Jugendphase. Zudem liegt in den erwähnten Studien der Fokus vor allem auf dem medizinischen und dem rechtlichen Bereich.

Eine Darstellung der subjektiven Erfahrungen und Deutungsmuster, die alle für die Jugendlichen relevanten Lebensbereiche in den Blick nimmt, gibt es bisher nicht.

(Der Text ist ein für das Web überarbeiteter Auszug aus Focks, Petra (2014): Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews. Berlin. Die vollständigen Literaturangaben finden sich im PDF.)

Focks, Petra (2014): Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviewsPDF-Download

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